Br. Herder: Über den Charakter der Menschheit (1793)
Br. Johann Gottfried von Herder (1744-1803) war kein aktiver Freimaurer, vielmehr engagierte er sich in Weimar bei den Illuminaten (einer freimaurer-ähnlichen Vereinigung, die die aktive Umgestaltung von Staat und Kirche im Sinn der Aufklärung angestrebte). Durch seine Texte wirkte er jedoch wegweisend auf die kommenden Freimaurergenerationen. Außerdem stand er in engem Austausch mit Br. Friedrich Ludwig Schröder (1744-1816), dem Hamburger Reformer der deutschen Freimaurerrituale.
In den folgenden 36 Paragrafen setzt sich Br. Herder mit seinem Humanitätsideal der menschlichen Gesellschaft auseinander. Auch wenn wir vieles davon heute sicher konstruktivistischer, relativer oder gar absurder formulieren mögen, so atmen seine Ideen noch wunderbar den Geist, der die Freimaurerei als eine Traditionspflege der Aufklärung in Deutschland fortan prägen sollte: der Kampf gegen die negativen Auswirkungen von Vorurteilen, das Überbrücken von Grenzen, Konflikt und Zusammenwachsen, natürlich auch die Vorstellung des großen Baus am Tempel der Humanität.
Als Johann Gottfried von Herder diese Worte verfasste, war er Hofprediger und Superintendent der Kirchen in Weimar. Im Text kommt daher auch sein diesseits-orientierter, aufklärerischer Blick auf das Christentum zum Ausdruck (was der damaligen Orthodoxie oft ein Ärgernis war).
Herders Gedanken sind tiefgreifend und zugleich von einer unglaublichen poetischen Schönheit beseelt. Er schriebt:
1. Vollkommenheit einer Sache kann nichts sein, als dass das Ding sei, was es sein soll und kann.
2. Vollkommenheit eines einzelnen Menschen ist also, dass er im Kontinuum seiner Existenz er selbst sei und werde, dass er die Kräfte brauche, die die Natur ihm als Stammgut gegeben hat, dass er damit für sich und andre wuchere.
3. Erhaltung, Leben und Gesundheit ist der Grund dieser Kräfte; was diesen Grund schwächet oder wegnimmt, was Menschen hinopfert oder verstümmelt, es habe Namen, wie es wolle, ist unmenschlich.
4. Mit dem Leben des Menschen fängt seine Erziehung an; denn Kräfte und Glieder bringt er zwar auf die Welt, aber den Gebrauch dieser Kräfte und Glieder, ihre Anwendung, ihre Entwicklung muss er lernen. Ein Zustand der Gesellschaft also, der die Erziehung vernachlässigt oder auf falsche Wege lenkt oder diese falschen Wege begünstigt oder endlich die Erziehung der Menschen schwer und unmöglich macht, ist insofern ein unmenschlicher Zustand. Er beraubt sich selbst seiner Glieder und des Besten, das an ihnen ist, des Gebrauchs ihrer Kräfte. Wozu hatten sich Menschen vereinigt, als dass sie dadurch vollkommenere, bessere, glücklichere Menschen würden?
5. Unförmliche also oder schiefausgebildete Menschen zeigen mit ihrer traurigen Existenz nichts weiter, als dass sie in einer unglücklichen Gesellschaft von Kindheit auf lebten; denn Mensch zu werden, dazu bringt jeder Anlage genug mit sich.
6. Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte. Die Fertigkeiten, die er sich erwirbt, die Tugenden oder Laster, die er ausübt, kommen in einem kleinern oder größeren Kreise andern zu Leid oder zur Freude.
7. Die gegenseitig wohltätigste Einwirkung eines Menschen auf den andern jedem Individuum zu verschaffen und zu erleichtern, nur dies kann der Zweck aller menschlicher Vereinigung sein. Was ihn stört, hindert oder aufhebt, ist unmenschlich. Lebe der Mensch kurz oder lange, in diesem oder jenem Stande, er soll seine Existenz genießen und das Beste davon andern mitteilen; dazu soll ihm die Gesellschaft, zu der er sich vereinigt hat, helfen.
8. Gehet ein Mensch von hinnen, so nimmt er nichts als das Bewußtsein mit sich, seiner Pflicht, Mensch zu sein, mehr oder minder ein Gnüge getan zu haben. Alles andre bleibt hinter ihm, den Menschen. Der Gebrauch seiner Fähigkeiten, alle Zinsen des Kapitals seiner Kräfte, die das ihm geliehene Stammgut oft hoch übersteigen, fallen seinem Geschlecht anheim.
9. An seine Stelle treten junge, rüstige Menschen, die mit diesen Gütern forthandeln; sie treten ab, und es kommen andre an ihre Stelle. Menschen sterben, aber die Menschheit perenniert unsterblich. Ihr Hauptgut, der Gebrauch ihrer Kräfte, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten, ist ein gemeines, bleibendes Gut und muss natürlicherweise im fortgehenden Gebrauch fortwachsen.
10. Durch Übung vermehren sich die Kräfte, nicht nur bei einzelnen, sondern ungeheuer mehr bei vielen nach- und miteinander. Die Menschen schaffen sich immer mehrere und bessere Werkzeuge; sie lernen sich selbst einander immer mehr und besser als Werkzeuge gebrauchen. Die physische Gewalt der Menschheit nimmt also zu: der Ball des Fortzutreibenden wird größer; die Maschinen, die es forttreiben sollen, werden ausgearbeiteter, künstlicher, geschickter, feiner.
11. Denn die Natur des Menschen ist Kunst. Alles, wozu eine Anlage in seinem Dasein ist, kann und muss mit der Zeit Kunst werden.
12. Alle Gegenstände, die in seinem Reich liegen (und dies ist so groß als die Erde), laden ihn dazu ein; sie können und werden von ihm, nicht ihrem Wesen nach, sondern nur zu seinem Gebrauch erforscht, gekannt, angewandt werden. Niemand ist, der ihm hierin Grenzen setzen könne, selbst der Tod nicht; denn das Menschengeschlecht verjünget sich mit immer neuen Ansichten der Dinge, mit immer jungen Kräften.
13. Unendlich sind die Verbindungen, in welche die Gegenstände der Natur gebracht werden können; der Geist der Erfindungen zum Gebrauch derselben ist also unbeschränkt und fortschreitend. Eine Erfindung weckt die andre auf; eine Tätigkeit erweckt die andre. Oft sind mit einer Entdeckung tausend andre und zehntausend auf sie gegründete, neue Tätigkeiten gegeben.
14.Nur stelle man sich die Linie dieses Fortganges nicht gerade, noch einförmig, sondern nach allen Richtungen, in allen möglichen Wendungen und Winkeln vor. Weder die Asymptote noch die Ellipse und Zykloide mögen den Lauf der Natur uns vormalen. Jetzt fallen die Menschen begierig über einen Gegenstand her; jetzt verlassen sie ihn mitten im Werk, entweder seiner müde oder weil ein andrer, neuerer Gegenstand sie zu sich hinreißt. Wenn dieser ihnen alt geworden ist, werden sie zu jenem zurückkehren, oder dieser wird sie gar auf jenen zurückleiten. Denn für den Menschen ist alles in der Natur verbunden, eben weil der Mensch nur Mensch ist und allein mit seinen Organen die Natur siehet und gebrauchet.
15. Hieraus entspringt ein Wettkampf menschlicher Kräfte, der immer vermehrt werden muss, je mehr die Sphäre des Erkenntnisses und der Übung zunimmt. Elemente und Nationen kommen in Verbindung, die sich sonst nicht zu kennen schienen; je härter sie in den Kampf geraten, desto mehr reiben sich ihre Seiten allmählich gegeneinander ab, und es entstehen endlich gemeinschaftliche Produktionen mehrerer Völker.
16. Ein Konflikt aller Völker unsrer Erde ist gar wohl zu gedenken; der Grund dazu ist sogar schon geleget.
17. dass zu diesen Operationen die Natur viel Zeit, mancherlei Umwandlungen bedarf, ist nicht zu verwundern; ihr ist keine Zeit zu lang, keine Bewegung zu verflochten. Alles, was geschehen kann und soll, mag nur in aller Zeit wie im ganzen Raum der Dinge zustande gebracht werden; was heute nicht wird, weil es nicht geschehen kann, erfolgt morgen.
18. Der Mensch ist zwar das erste, aber nicht das einzige Geschöpf der Erde; er beherrscht die Welt, ist aber nicht das Universum. Also stehen ihm oft die Elemente der Natur entgegen, daher er mit ihnen kämpfet. Das Feuer zerstört seine Werke; Überschwemmungen bedecken sein Land; Stürme zertrümmern seine Schiffe, und Krankheiten morden sein Geschlecht. Alles dies ist ihm in den Weg gelegt, damit er's überwinde.
19. Er hat dazu die Waffen in sich. Seine Klugheit hat Tiere bezwungen und gebraucht sie zu seiner Absicht; seine Vorsicht setzt dem Feuer Grenzen und zwingt den Sturm, ihm zu dienen. Den Fluten setzt er Wälle entgegen und geht auf ihren Wogen daher; den Krankheiten und dem verheerenden Tode selbst sucht und weiß er zu steuren. Zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt, und tausend Entdeckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte sie die Not nicht erfunden. Sie ist das Gewicht an der Uhr, das alle Räder derselben treibet.
20. Ein Gleiches ist's mit den Stürmen in unsrer Brust, den Leidenschaften der Menschen. Die Natur hat die Charaktere unseres Geschlechts so verschieden gemacht, als diese irgend nur sein konnten; denn alles Innere soll in der Menschheit herausgekehrt, alle ihre Kräfte sollen entwickelt werden.
21. Wie es unter den Tieren zerstörende und erhaltende Gattungen gibt, so unter den Menschen. Nur unter jenen und diesen sind die zerstörenden Leidenschaften die wenigern; sie können und mussen von den erhaltenden Neigungen unsrer Natur eingeschränkt und bezwungen, zwar nicht ausgetilgt, aber unter eine Regel gebracht werden.
22. Diese Regel ist Vernunft, bei Handlungen Billigkeit und Güte. Eine vernunftlose, blinde Macht ist zuletzt immer eine ohnmächtige Macht; entweder zerstört sie sich selbst oder muss am Ende dem Verstande dienen.
23. Desgleichen ist der wahre Verstand immer auch mit Billigkeit und Güte verbunden; sie führet auf ihn, er führet auf sie. Verstand und Güte sind die beiden Pole, um deren Achse sich die Kugel der Humanität beweget.
24. Wo sie einander entgegengesetzt scheinen, da ist's mit einer oder dem andern nicht richtig; eben diese Divergenz aber macht Fehler sichtbar und bringt den Kalkül des Interesse unsres Geschlechts immer mehr zur Richtigkeit und Bestimmtheit. Jeder feinere Fehler gibt eine neue, höhere Regel der reinen allumfassenden Güte und Wahrheit.
25. Alle Laster und Fehler unsres Geschlechts mussen also dem Ganzen endlich zum Besten gereichen. Alles Elend, das aus Vorurteilen, Trägheit und Unwissenheit entspringt, kann den Menschen seine Sphäre nur mehr kennen lehren; alle Ausschweifungen rechts und links stoßen ihn am Ende auf seinen Mittelpunkt zurück.
26. Je unwilliger, hartnäckiger, träger das Menschengeschlecht ist, desto mehr tut es sich selbst Schaden; diesen Schaden muss es tragen, büßen und entgelten; desto später kommt's zum Ziele.
27. Dies Ziel ausschließend jenseit des Grabes setzen, ist dem Menschengeschlecht nicht förderlich, sondern schädlich. Dort kann nur wachsen, was hier gepflanzt ist, und einem Menschen sein hiesiges Dasein rauben, um ihn mit einem andern außer unsrer Welt zu belohnen, heißt, den Menschen um sein Dasein betrügen.
28. Ja, dem ganzen menschlichen Geschlecht, das also verführt wird, seinen Endpunkt der Wirkung verrücken, heißt, ihm den Stachel seiner Wirksamkeit aus der Hand drehn und es im Schwindel erhalten.
29. Je reiner eine Religion war, desto mehr musste und wollte sie die Humanität befördern. Dies ist der Prüfstein selbst der Mythologie der verschiednen Religionen.
30. Die Religion Christi, die er selbst hatte, lehrte und übte, war die Humanität selbst. Nichts anders als sie; sie aber auch im weitsten Inbegriff, in der reinsten Quelle, in der wirksamsten Anwendung. Christus kannte für sich keinen edleren Namen, als dass er sich den Menschensohn, d.i. einen Menschen, nannte.
31. Je besser ein Staat ist, desto angelegentlicher und glücklicher wird in ihm die Humanität gepfleget, je inhumaner, desto unglücklicher und ärger. Dies geht durch alle Glieder und Verbindungen desselben von der Hütte an bis zum Throne.
32. Der Politik ist der Mensch ein Mittel; der Moral ist er Zweck. Beide Wissenschaften mussen eins werden, oder sie sind schädlich widereinander. Alle dabei erscheinende Disparaten indes mussen die Menschen belehren, damit sie wenigstens durch eigenen Schaden klug werden.
33. Wie jeden aufmerksamen einzelnen Menschen das Gesetz der Natur zur Humanität führet – seine rauhen Ecken werden ihm abgestoßen, er muss sich überwinden, andern nachgeben und seine Kräfte zum Besten andrer gebrauchen lernen –, so wirken die verschiedenen Charaktere und Sinnesarten zum Wohl des größeren Ganzen. Jeder fühlt die Übel der Welt nach seiner eigenen Lage; er hat also die Pflicht auf sich, sich ihrer von dieser Seite anzunehmen, dem Mangelhaften, Schwachen, Gedruckten an dem Teil zu Hilfe zu kommen, da es ihm sein Verstand und sein Herz gebietet. Gelingt's, so hat er dabei in ihm selbst die eigenste Freude; gelingt's jetzt und ihm nicht, so wird's zu anderer Zeit einem andern gelingen. Er aber hat getan, was er tun sollte und konnte.
34. Ist der Staat das, was er sein soll, das Auge der allgemeinen Vernunft, das Ohr und Herz der allgemeinen Billigkeit und Güte, so wird er jede dieser Stimmen hören und die Tätigkeit der Menschen nach ihren verschiednen Neigungen, Empfindbarkeiten, Schwächen und Bedürfnissen aufwecken und ermuntern.
35. Es ist nur ein Bau, der fortgeführt werden soll, der simpelste, größeste; er erstrecket sich über alle Jahrhunderte und Nationen; wie physisch, so ist auch moralisch und politisch die Menschheit im ewigen Fortgange und Streben.
36. Die Perfektibilität ist also keine Täuschung; sie ist Mittel und Endzweck zu Ausbildung alles dessen, was der Charakter unsres Geschlechts, Humanität, verlanget und gewähret.
Hebet eure Augen auf und sehet. Allenthalben ist die Saat gesäet; hier verweset und keimt, dort wächset sie und reift zu einer neuen Aussaat. Dort liegt sie unter Schnee und Eise; getrost! das Eis schmilzt, der Schnee wärmt und decket die Saat. Kein Übel, das der Menschheit begegnet, kann und soll ihr anders als ersprießlich werden. Es läge ja selbst an ihr, wenn es ihr nicht ersprießlich würde; denn auch Laster, Fehler und Schwachheiten der Menschen stehen als Naturbegebenheiten unter Regeln, und sind oder sie können berechnet werden. Das ist mein Credo. Speremus atque agamus. [Lasst uns hoffen und handeln.]
Quelle:
Herder, J.G. v.: Briefe zur Beförderung der Humanität. Zweite Sammlung, 1793, 25. Brief.
zusammengetragen und eingeleitet von Br. Robert Matthees (Hamburg, 16.06.2025)