Logenrede von Br. Carl von Ossietzky (ca. 1920)
Der aus Hamburg stammende Publizist Br. Carl von Ossietzky (1889-1938) ist eine Symbolfigur des liberalen Antifaschismus. Ab 1927 war Br. Ossietzky in Berlin Herausgeber der bedeutendsten linksliberalen Wochenzeitschrift der Weimarer Republik, der „Weltbühne“, heute in etwa vergleichbar mit dem „Spiegel“.
Im April 1919 wurde er Mitglied einer Hamburger Freimaurerloge, die dem “Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne” angehörte. Dieser war eine reformfreimaurerische Bewegung und wurde damals von den Mainstream-Logen nicht anerkannt. Letztere waren zu jener Zeit oft sehr nationalistisch und nicht selten auch konsequent christlich geprägt. Der “Freimaurerbund zur aufgehenden Sonne” beruhte dagegen auf Freidenkertum und Internationalität.
Zur Machtergreifung der Nazis war Br. Ossietzky bereits inhaftiert. Auch durch das Engagement seiner Tochter wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen, für seinen Einsatz gegen den deutschen Militarismus und für Frieden und Meinungsfreiheit. Persönlich entgegennehmen konnte er ihn nicht. 1938 starb Br. Ossietzky an den Folgen der KZ-Haft.
Von Br. Carl von Ossietzky sind uns einige Mitschriften von Reden bekannt, die er so in seiner Hamburger Loge “Menschentum” gehalten haben soll. Sie stammen aus den persönlichen Aufzeichnungen von Br. Walter Berendsohn, damals seinerseits Professor für deutsche Literatur und Skandinavistik in Hamburg, später Vorsitzender (Meister vom Stuhl) der genannten Loge.
Der von ihm aufgezeichnete längere Redeauszug, den Carl von Ossietzky in der Loge gehalten habe, lautet:
“Brüder aller Nationen! Baumeister der Zukunft! Wir wollen alle Vorurteile, allen Haß, Hader und Habgier, alle kriegerischen Instinkte, allen törichten Rassen- und Nationaldünkel aus unseren Herzen und Hirnen reißen, denn sie sind Reste vergangener Kulturstufen und für die Gegenwart und Zukunft schädlich. Wir wollen die Gemeinschaft der Menschen freudig als die Grundlage unserer Sittlichkeit anerkennen, denn wir sind alle Menschen, gleicher Art und gleichen Wesens. Wir wissen, woher wir kamen; wir ahnen, wohin wir gehen und wir sind Mittler zum Leben, meine Brüder. Wir wollen Mitkämpfer, Förderer und Führer all jener Bewegungen sein, in denen ein freies Menschentum nach sinnvoller Gestaltung des Daseins strebt, sei es in bewährten alten, sei es in unseren neuen Formen. Werden Menschen neuer Lebensanschauung ihrer Überzeugung willen verfolgt, so muß der Bund seine Streiter auf den Plan senden, um zu schützen oder nach Kräften zu stützen.”1
Diese Zeilen klingen absolut authentisch. Sie erinnern obendrein sehr an die Formulierungen aus einem Buch, das er 1919 publizieren ließ. Darin heißt es:
“Mitten im Grauen des Krieges haben wir neues Menschentum geahnt. [— Der Name seiner Loge. —] Können wir es erklären? Nein, wir wissen nur eines: es war der Gegensatz zu unserm ganzen Tun und Treiben.
Wir müssen den Menschen schaffen, der über keine Tradition mehr stolpert. [Freiheit]
Wir müssen den Menschen schaffen, dem kein Staat, keine Partei mehr befehlen darf: Du sollst töten! oder: Du sollst dich töten lassen! [Pazifismus]
Wir müssen den Menschen schaffen, der nicht mehr die Geißel des Hungers kennt. [Fortschritt]
Wir müssen den Menschen schaffen, frei in seinem Gewissen, von keiner Instanz beeinträchtigt. [Freidenkertum]
Wir müssen den autonomen Menschen schaffen, durch nichts gebunden als durch das Bewußtsein, daß Millionen sein Schicksal teilen. [Mitmenschlichkeit, Ethik]
Wir wollen nicht mehr die Zwangsorganisation, die die alte Welt in den Abgrund getrieben hat, sondern nur die Bindung aus Erkenntnis, aus Wissen, aus freier Wahl. [Demokratie]"2
Hier spricht ganz der Aktivist Ossietzky. Diesen Idealen blieb er ein Leben lang treu.
Weitere Informationen finden Sie in der von mir kostenfrei online publizierten Carl von Ossietzky-Biografie.
Fußnoten:
1) Notizen zu einer Logenrede von Carl von Ossietzky, aufgezeichnet von Walter Berendsohn. Auch in: Weisheit, Stärke, Schönheit – Deutschsprachige Dichter und Denker des 20. Jahrhunderts zur Freimaurerei, herausgegeben von Appel, R. und Oberheide, J., 1998, S. 77.
2) Ossietzky, C. v.: Der Anmarsch der neuen Reformation, 1919, S. 34.
zusammengetragen und eingeleitet von Br. Robert Matthees (Hamburg, 16.06.2025)