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Rede zur Aufnahme von Sr. Maria Deraismes

Ein Auszug übersetzt von Br. Robert Matthees

(gehalten beim Bankett nach ihrer Aufnahme in die Loge Les Libres Penseurs in Le Pecq, am 14. Januar 1882)

Maria Deraismes als Stuhlmeisterin

MEINE HERREN, MEINE DAMEN,
MEINE BRÜDER, MEINE SCHWESTERN,

ich möchte einen Toast auf die Loge Les Libres Penseurs [Die Freidenker] in Le Pecq aussprechen, die mich heute mit der Aufnahme in ihren Kreis geehrt hat. Ich möchte ihr meinen Dank für den schmeichelhaften Empfang aussprechen, den sie mir bereitet hat. Aber ich fühle, dass die Lobeshymnen, die auf mich herabregnen, eher einer exquisiten Höflichkeit entspringen als einer Tatsache, denn die Hälfte davon habe ich nicht verdient. Wenn ich Sie, meine lieben Brüder, deshalb zu Ihrer Entschlossenheit beglückwünsche, so muss ich Sie bitten, dies nicht als ein Zeichen einer Verliebtheit in mich selbst zu betrachten. Denn wenn es nur um die Aufnahme meiner unbedeutenden Person in die Freimaurerei ginge, wenn es nur um die schwache Unterstützung ginge, die ich Ihnen bieten kann, wäre das Ereignis nur von geringer und nur lokaler Bedeutung. Aber es ist von viel größerer Bedeutung. Die Tür, die Sie für mich geöffnet haben, wird sich hinter mir nicht mehr schließen; eine ganze Legion wird mir folgen. Sie, meine Brüder, haben einen Beweis für Weisheit und Initiative erbracht. Durch Sie ist ein Vorurteil besiegt worden.

Zweifellos seid Ihr eine Minderheit, aber Ihr seid eine glorreiche Minderheit, um die sich bald die Mehrheit der widerspenstigen Logen scharen wird; die Anwesenheit so vieler bedeutender Brüder hier, die dazu gehören, ist eine sichere Garantie dafür.

Besonders kurios ist, dass diese Aufnahme einer Frau, die in unserer Zeit als ein Ereignis angesehen wird, nur eine Reminiszenz an die Vergangenheit ist. [...]

So ist die Verleihung von Universitätsabschlüssen an Frauen, um ihnen den Zugang zu Berufen zu ermöglichen, die ihnen bis dahin verwehrt waren, eine öffentliche Bestätigung der Gleichwertigkeit beider Geschlechter. Es ist nicht mehr die Ausnahme, die toleriert wird, vielmehr ist es jetzt die Regel, die angegriffen wird, es ist der Kodex, der ins Visier genommen wird; es ist das Zeichen unserer bevorstehenden Befreiung. Deshalb wird das, was unter der Willkürherrschaft unbemerkt bleiben konnte, jetzt von Männern beanstandet, die eifersüchtig auf die Beibehaltung ihres Privilegs pochen. Man muss erkennen, dass die männliche Vorherrschaft in Frankreich die letzte Aristokratie ist. Sie kämpft vergeblich, die Zeit ihres Verschwindens rückt näher.

Ehrlich gesagt, muss ich bekunden, dass ich den hartnäckigen Widerstand der Freimaurerei gegen die Aufnahme von Frauen immer weniger verstehen kann. Dieses irrationale Beharren auf dem Ausschluss des weiblichen Elements beruht auf keinem triftigen Grund.

Aus welchem Grund hat die Freimaurerei uns bis jetzt ausgeschlossen? Hält sie ein Monopol auf höhere Wahrheiten, die nur elitären Intelligenzen zugänglich sind? Nein.

Behandelt sie abstrakte, transzendente Dinge, die ein vorbereitendes Studium benötigen? Nein, ohne dergleichen sind wir aufgenommen. Verbirgt sie Arkana, Geheimnisse, die nur wenigen Auserwählten offenbart werden dürfen? Nein, denn die Zeit der Geheimnisse und Mysterien ist vorbei.

Wissenschaft wird am helllichten Tag gelehrt, offen und frei. Frauen sind ebenso wie Männer aufgerufen, ihren Anteil an der menschlichen Erkenntnis zu übernehmen. Sie nehmen an denselben Prüfungen teil, bestehen dieselben Examen und erhalten dieselben Abschlüsse. Einige behaupten, dass die Aufnahme von Frauen in die Freimaurerei zu einem Verlust an Ernsthaftigkeit im Orden führen würde. Dieser Einwand kann nur ein Scherz sein.

Die Medizinische Fakultät öffnet uns wieder ihre Pforten: Studenten, Studentinnen, erhalten den gleichen Unterricht von den gleichen Professoren; beide Geschlechter sind mit der gleichen Arbeit betraut und streben nach dem gleichen Doktorhut, der ihnen auch nach dem Grad der Verdienste und Kenntnisse verliehen wird. Und doch glaubt die medizinische Fakultät nicht, dass sie dadurch etwas von ihrer Würde und Seriosität einbüßt. Woher kommen dann die Skrupel der Logen? Welche Vorrechte verteidigen sie mit so eifersüchtiger Sorgfalt, wenn nicht die der Gewohnheit?

Sie haben also einen großen Schlag getan, meine Brüder, indem Sie mit alten, durch Unwissenheit geweihten Traditionen gebrochen haben. Sie haben den Mut gehabt, sich der Starrheit der freimaurerischen Orthodoxie zu stellen. Sie ernten die Früchte. Heute werden Sie als Ketzer betrachtet, weil Sie Reformer sind. Aber da der Bedarf an Reformen überall notwendig besteht, wird es nicht lange dauern, bis Sie triumphieren.

Es gibt eine große Bewegung für die Emanzipation der Frau. Wir stehen noch am Anfang und stoßen daher auf Schwierigkeiten, da uralte Vorurteile noch tief in den Köpfen der Menschen verwurzelt sind; diejenigen, die sich für am freiesten halten, stehen, ohne es zu wissen, unter dem Joch der Tradition. Seit Anbeginn der Welt ist die Frau ein deklassiertes Wesen; sie ist, wenn ich so sagen darf, ein verkannter Wert. Die Religion hat sie für schuldig befunden. Die falsche Wissenschaft hat sie für unfähig erklärt. Zwischen diesen beiden Extremen hat sich ein Mittelbegriff etabliert und es wurde geschlussfolgert: “Die Frau ist ein Wesen des Gefühls; der Mann ist ein Wesen der Vernunft.” Dies galt tatsächlich als Entdeckung, ob Sie es glauben oder nicht.

Als Ergebnis dieses Urteils wurde gefolgert, dass die Frau, da sie sensibel, emotional und beeinflussbar sei, nicht in der Lage wäre, geschäftliche Angelegenheiten oder sich selbst zu managen. Darum sei es die Sache des Mannes, das Gesetz zu erlassen, und die der Frau, sich ihm zu unterwerfen.

Es ist natürlich nicht schwer zu beweisen, dass diese Klassifizierung absolut willkürlich und künstlich ist. Denn der Mensch hat nicht das Recht, Rollen zu verteilen, denn nicht er war es, der die Fähigkeiten vergeben hat. Er befindet sich in einem merkwürdigen Irrtum, wenn er hier in die Rolle des Schöpfers tritt. Wie alle anderen Lebewesen auch, ist er das Produkt einer bewussten oder unbewussten Urkraft. Aber dies ist nicht der Ort für eine solche Diskussion. [...]

Es liegt an jedem einzelnen von uns, seinen eigenen Weg zu gehen. [...]

Nachdem das Dekret der Unterlegenheit der Frau erlassen worden ist, hat der Mann alle Macht an sich gerissen. Er hat sich mit der Gesetzgebung und der Politik beschäftigt. Er hat Gesetze, Institutionen, Verfassungen und Satzungen erschaffen; er hat Bildungsprogramme entworfen und sich bemüht, Frauen aus den beratenden Versammlungen und Räten zu entfernen. Schließlich hat er sich im Privatleben wie im öffentlichen Leben als Herr und Führer durchgesetzt. Nicht immer hat dies gut geklappt. Daraus wurde gefolgert, dass es noch schlimmer wäre, wenn sich Frauen beteiligen würden.

Doch dies gilt es erst einmal zu beweisen.

In Wirklichkeit sind Frauen eine Macht. Sie sind die eine Hälfte der Menschheit, und auch wenn sie in Bezug auf allgemeine Eigenschaften mit der anderen Hälfte gleichwertig ist, zeichnet sie sich durch besondere Fähigkeiten von unwiderstehlicher Kraft aus, die einen besonderen, wesentlichen und unverzichtbaren Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklung der Menschheit bilden.

Es wird behauptet, dass der Platz der Frauen nur in der Familie sei, dass Mutterschaft ihre höchste Funktion sei, dass sie im Haus Königinnen seien. Dies ist eine eklatante Lüge. Die Frau ist in der Familie genauso versklavt wie überall sonst; sie wird von der ehelichen und väterlichen Macht beherrscht. Und für ihre Kinder ist ihr jede Initiative untersagt. [...]

Jedes Gesetz, das die individuelle Entwicklung einschränkt, indem es sie willkürlich entmündigt, ist nicht nur unnatürlich, weil es dem Plan der Natur widerspricht, sondern auch unmoralisch, weil es in denjenigen, die es entmündigt, den Wunsch hervorruft, dem Gesetz zu entkommen, um anderswo die Vorteile zu suchen, die das Gesetz ihnen verwehrt. [...]

Wenn [die Frau] im Namen der Vernunft protestiert, wird ihr die Kompetenz abgesprochen; wenn sie sich auf das Gefühl beruft, wird ihr Leidenschaft unterstellt. [...]

Die unnatürliche Klassifizierung der Frauen in der Welt hat sie stark für das Böse und machtlos für das Gute gemacht. [...]

Die Frau war leider in ihrer unterlegenen Situation nie in der Lage, das Organ, der Anwalt, der Verteidiger ihrer eigenen Ideen zu sein, die nur auf indirekte und ungenaue Weise vertreten wurden.

Und doch sind dies unverzichtbare Elemente für die Entwicklung der Menschheit und ihren Fortschritt. Warum sind die sozialen Bemühungen so schwach geblieben? Weil sie unvollständig sind; sie haben nie das Siegel der Dualität der menschlichen Natur getragen.

Ach! wenn die Freimaurerei den Geist ihrer Aufgabe gut durchdrungen hätte; wenn sie die Initiative ergriffen hätte, nur vor vierzig Jahren, dann hätte sie die größte Revolution der Neuzeit vollbracht, sie hätte viele Katastrophen vermieden. [...]

Wie konnte die Freimaurerei, die dem Klerus feindlich gesinnt und ihm verhasst war, nicht begreifen, dass die Einführung von Frauen in ihren Orden der sicherste Weg gewesen wäre, sie zu überwinden und zu besiegen? Sie hatte das Instrument des Sieges in ihren Händen und ließ es ungenutzt liegen.

Die Aufnahme des weiblichen Elements hätte die Freimaurerei verjüngt und Langlebigkeit verliehen. Die freimaurerische Familie hätte Ihre private Familie assimiliert, sie hätte ihre Ansichten erweitert, ihre Horizonte vergrößert; sie hätte Licht verbreitet und den Fanatismus vertrieben [...].

[Mit der Frau wird die] Freimaurerei eine Schule werden, in der das Gewissen, der Charakter, der Wille geformt wird; eine Schule, in der die Menschen davon überzeugt werden, dass Solidarität kein leeres Wort, keine phantasievolle Theorie ist, sondern eine Realität, das heißt ein natürliches, unumstößliches Gesetz, nach dem jeder Einzelne ein ebenso großes Interesse daran hat, seine Pflichten zu erfüllen wie seine Rechte einzufordern.

Auf diese Weise bereiten Sie das Material für eine echte Demokratie.

Erlauben Sie mir, ein letztes Wort hinzuzufügen.

Es ist wahrscheinlich, dass die freimaurerische Orthodoxie uns noch für einige Zeit verbieten wird, ihre Tempel zu betreten, und uns weiterhin als profan betrachten wird. Wir sollten uns davon nicht beirren lassen. Arbeiten Sie aktiv daran, diesen Fehler zu korrigieren. Kurzum, wir sagen ihnen, was auch sie uns sagen: "Uns fühlen uns hier wohl, wir bleiben hier."

Maria Deraismes, Le Pecq, 14. Januar 1882

(übersetzt von Br. Robert Matthees, Hamburg, 8. Januar 2023)

Französische Quelle:
Driot Humain: Bulletin International, Vol. 2, 1895, S. 39-45.


Im Freimaurer-Wiki finden Sie weitere Informationen zur Entstehung der gemischten Freimaurerei.


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